Der Luxus der Leere

Wie belebt man den ländlichen Raum? Diese Frage stellen sich Gemeinden überall in Deutschland. Eine Antwort findet sich in Kalbe (Milde) in der Altmark. Im Gespräch mit Corinna Köbele, Gründerin des Vereins „Künstlerstadt Kalbe e. V.“.

In den 27 Jahren, die Corinna Köbele schon in Kalbe (Milde) in der Altmark lebt, hat viel zu häufig leerstehende Gebäude gesehen. Um sie wieder zu nutzen, gründete sie im Jahr 2013 den Verein „Künstlerstadt Kalbe e. V.“. Das Ziel: mit Kunst und Kultur einen Ort wiederbeleben, der für Kreative viel zu bieten hat. Stück für Stück erobert die mehrfach ausgezeichnete Künstlerstadt einen Ort, der einen Luxus bietet, den Kreative in den Städten oft nicht haben: Raum, sich zu entfalten.

Kurz gesagt: Was ist die Künstlerstadt Kalbe?
Corinna Köbele: Die Künstlerstadt ist unsere Antwort, den Folgen des demographischen Wandels mit Kunst und Kultur zu begegnen. Wir wollen Leerstand beseitigen, Bleibeperspektiven schaffen und Zuzug ermöglichen. Wichtig ist uns dabei vor allem, dass die Künstlerstadt für jeden offen ist. Wir sagen: Kultur ist nicht etwas für zehn Prozent der Bevölkerung oder für das Bildungsbürgertum. Kultur findet überall statt, und wir möchten alle einladen, sich zu beteiligen. Kinder und Jugendliche, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Die Künstlerstadt ist also kein Kunst- oder Kulturverein, sondern eine soziale Bewegung.

Wie ist die Künstlerstadt entstanden?
Ich wohne seit Langem in der Altstadt von Kalbe, habe um mich herum immer wieder leerstehende Gebäude gesehen und habe mich gefragt, wieso macht niemand etwas daraus? 2013 habe ich einen Aufruf gestartet: Wer hat Lust, diese Gebäude wieder mit Leben zu füllen? Damals stellten wir unsere ersten Veranstaltungen in der Scheune eines großen, alten Vierseitenhofes hier im Ort auf die Beine. 2016 haben wir diesen Hof über einen Kredit gekauft und machen seitdem daraus den ,Kulturhof'. Inzwischen besitzen wir 17 Immobilien überall in der Altstadt, die wir nach und nach sanieren.

Wie kamen Sie auf die Idee zum Kulturhof?
Der Hof ist ein riesiges Gelände: ein alter Vierseitenhof mit 1.700 Quadratmetern Fläche, eine wunderbare, kompakte Ästhetik. Als wir zum ersten Mal dort waren, war uns klar: Genau solche Räume brauchen wir. Beim damaligen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit gab es einen Workshop, "Baukultur konkret", der uns ermutigt hat, den Hof tatsächlich zu kaufen. 2016 haben wir das über einen Kredit getan. Seitdem sanieren wir den Hof Schritt für Schritt mit Hilfe von Fördermitteln. Wir möchten viel daraus machen: ein gemeinnütziges Café, Jugendkulturräume, Ateliers und Werkräume. Im Juni soll das Vorderhaus fertig sein, dort haben wir dann Einquartierungsmöglichkeiten für Workshops oder unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten. Wir veranstalten im Ort auch viele Festivals, da ist der Kulturhof Zentrum und Anker der Veranstaltungen.

Sie veranstalten jedes Jahr einen 50-tägigen „Sommercampus“ und einen 30-tägigen „Wintercampus“. Worum geht es dabei?
Das Ziel ist, die Menschen für den ländlichen Raum zu sensibilisieren. Denn in ländlichen Gegenden gibt es oft wenig zeitgenössische Kunst. Mit den Stipendien an Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt bringen wir alle möglichen Arbeiten hierher. Unsere jüngste Stipendiatin war eine 14-jährige Komponistin, der älteste war 72 und Filmemacher. Alle können sich bewerben, wir legen Wert darauf, dass am Ende eine vielfältige Mischung entsteht. Die Kreativen bekommen außerdem Patinnen und Paten – Menschen aus Kalbe, die sie hier willkommen heißen möchten. So schaffen wir eine menschliche Basis. Es ist ja nicht immer einfach, zeitgenössische Kunst zugänglich zu machen. Wenn ich aber eine Künstlerin oder einen Künstler kennenlerne, gibt mir das einen völlig anderen Zugang zur Arbeit dieser Person.

Demnächst feiern Sie zehn Jahre Künstlerstadt. Blicken wir zurück: Haben Sie geschafft, was Sie sich 2013 vorgenommen haben?
Die Künstlerstadt läuft sehr gut. Wir bekommen oft Anfragen, zum Beispiel zum Sommercampus oder den Veranstaltungen rundherum. Mit unserer Arbeit spornen wir also andere an, aktiv zu werden – auch mit der Idee, dafür eigene Häuser zu kaufen. Wir unterstützen zudem die Region: Anfang März veranstalten wir einen Workshop zum Thema ,Fördermittel finden‘ und geben dort unser Wissen aus zehn Jahren Arbeit weiter. Mittlerweile gelten wir schon als die ,Fördermittelfinder‘. Ich wurde sogar schon zu Konferenzen im Ausland eingeladen, wo man wissen wollte, wie wir hier arbeiten. Und ich glaube, unsere Initiative ist auch ein schönes Aushängeschild für Sachsen-Anhalt.

Wo wir dabei sind: Was zeichnet Sachsen-Anhalt als Standort für Kreative aus?
Wir haben hier den Luxus der Leere. Wir können Räume erschließen und als Gestaltungsräume nutzen. Das ist ein hohes Gut. In den Städten ist oft entweder alles schon da, alles durchgedacht, oder kein Platz. Das Problem haben wir nicht. Wir haben Platz, können ausprobieren und innovativ sein. Ich glaube: Innovation geschieht nicht in der Mitte, sondern am Rand. Und wir sind der Rand.

Was ist Ihre größte Herausforderung?
Die Personalstruktur. Für das, was hier möglich ist, haben wir viel zu wenig Personal, wir brauchen dringend Unterstützung. In den vergangenen Jahren haben wir Förderung von der EU bekommen, das hat viel möglich gemacht. Die Mittel sind jetzt ausgelaufen, und wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Arbeit organisieren und neue Mittel finden.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Was hält das Jahr 2023 für die Künstlerstadt und den Kulturhof bereit?
In wenigen Tagen startet der Wintercampus, auch der Sommercampus findet wieder statt. Ein weiteres Highlight wird das BRUCCA!-Festival, ein Straßentheaterfestival an neun außergewöhnlichen Orten in Kalbe. Außerdem gibt es viele Bauvorhaben, wir haben zum Beispiel gerade ein neues Haus gekauft. Dazu kommt die Arbeit in der Region: Ein Kindergarten aus Kalbe ist auf uns zugekommen, wir möchten zusammen ein Theaterprojekt auf die Beine stellen. Darauf freue ich mich, weil es zeigt, was wir für die Region tun können.

Mehr Informationen zum Kulturhof und zur Künstlerstadt, Informationen zu Veranstaltungen und Möglichkeiten für Spenden gibt es unter www.kuenstlerstadt-kalbe.de.

Foto: Kalbe