„Junge Menschen müssen sich ausprobieren“

Tanz und Theater, Ausstellungen und Freizeitcamps: Die Kunstplatte in Stendal ist eine echte Instanz, wenn es um kreative Arbeit in der Altmark geht. Seit inzwischen 25 Jahren engagiert sich der Verein für Kinder und Jugendliche.

Für Bernd Zürcher, Jahrgang 1954, nahm das kreative Engagement den Anfang mit der eigenen Familie: Auf der Suche nach Angeboten für seine Tochter stieß er im Jahr 2002 auf die Kunstplatte. Seitdem ist er im Verein aktiv, seit vielen Jahren als Vorsitzender. In dieser Zeit hat er die Kunstplatte durch zahlreiche Veränderungen und Herausforderungen geführt – und gemerkt, wie wichtig kreative Jugendarbeit ist.

Herr Zürcher, wie ist die Kunstplatte entstanden?
Zürcher: Der Verein entstand 1998 aus einem Projekt der Stendaler Wohnungsbaugesellschaft. Das Ziel war, kulturelle Arbeit ins Plattenbaugebiet Stendal-Stadtsee zu bringen. Seitdem haben Freiwillige aus der Gegend Projekte organisiert und in der Kunstplatte eine Plattform für kreative Entwicklung geboten. Seit fast 20 Jahren kooperieren wir außerdem mit dem örtlichen Theater und dem Offenen Kanal des Stendaler Fernsehens. Unser Ziel ist es, Angebote für junge Menschen hier vor Ort und in der Gegend zu schaffen. Dazu arbeiten wir mit einem Netzwerk aus verschiedenen Partnern zusammen: Dazu gehören neben dem Theater und dem Offenen Kanal auch die Regionalstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hier in Sachsen-Anhalt oder der Verein „Kinder stärken“, der zur örtlichen Hochschule gehört. Gemeinsam wollen wir die Arbeit der Kunstplatte weiterleben lassen.

Was macht den Verein aus?
Zürcher: Wir bieten jungen Menschen eine Plattform, sich auszuprobieren. Egal, woran sie bei uns arbeiten – ob Bilder, Theaterstücke oder Filme entstehen – am Ende gibt es immer eine öffentliche Präsentation. Da geht es zunächst einmal darum, die Arbeit anzuerkennen und anderen zu zeigen. Darüber hinaus wollen wir den Jugendlichen das Selbstvertrauen geben, sich mit ihrer Arbeit zu präsentieren. Bei einer Inszenierung von Romeo und Julia zum Beispiel hatten wir über 5.000 Zuschauerinnen und Zuschauer – wer vor so einem Publikum aufgetreten ist, kann eigentlich auch vor Prüfungen keine Angst mehr haben. Auch Integration und Inklusion ist uns wichtig: Wir haben zum Beispiel eine gehörlose Person eingestellt, die als Schneiderin gearbeitet hat. Innerhalb von anderthalb Jahren hat sie selbst Projekte mit den Jugendlichen umgesetzt – dieser soziale Anspruch ist bei uns ganz, ganz groß.

Sie bieten Kunst- und Kulturprojekte für Kinder und Jugendliche an. Worum geht es dabei genau?
Zürcher: Was wir anbieten, hängt stark davon ab, welche Kompetenzen die Menschen haben, die wir einstellen. Dabei sind wir auf Förderung angewiesen, zum Beispiel vom Jugendamt oder der Aktion Mensch. Bis 2008 hatten wir einen Kollegen, der viel im Bereich Musical angeboten hat, so kam zum Beispiel die Inszenierung von Romeo und Julia zustande. 2010 mussten wir wegen eines Rückbaus unsere Räume verlassen und anderthalb Jahre lang ausweichen. Da haben wir uns gefragt, in welche Richtung wir in Zukunft gehen wollen, und festgestellt: Hier in Stendal gibt es eigentlich schon recht viele Angebote in der Jugendarbeit – im ländlichen Bereich sieht es nicht so gut aus.

Sind so die mobilen Angebote entstanden?
Zürcher: Genau. Wir haben begonnen, Kurse im Landkreis anzubieten, zunächst Tanz, dann Theater- und Filmprojekte. Seit 2016 bieten wir mit der sogenannten „Traumzeit“ außerdem Ferienprogramm für Kinder und Jugendliche von sechs bis 13 Jahren an: Das ist dann eine Woche Ferienspiele auf einem Vierseitenhof in Brunkau. In der Coronazeit mussten wir pausieren, aber im vergangenen Jahr haben wir die Traumzeit mit Unterstützung durch die Aktion Deutschland hilft vorwiegend mit ukrainischen Kindern durchgeführt. Das wollen wir auch in diesem Jahr wieder umsetzen.

Wie wichtig ist Ihnen die mobile Arbeit?
Zürcher: Sehr wichtig. Im ländlichen Raum sind die Ehrenamtlichen mit Angeboten wie den freiwilligen Feuerwehren oder Karnevalsvereinen häufig schon gut ausgelastet – dort wollen wir Partner sein und damit noch vielfältigere Angebote im künstlerischen und kreativen Bereich anbieten. Ich sehe 50 Prozent unserer Aufgaben hier in unseren eigenen Räumen in Stendal und 50 Prozent im ländlichen Raum.

Wie schätzen Sie die Bedeutung kreativer Jugendarbeit ein – gerade auch in Sachsen-Anhalt?
Zürcher: Gerade hier ist es wichtig, niedrigschwellig zu beginnen. Wir bringen Kinder und Jugendliche in Gruppen zusammen, stoßen kreative Entwicklungen an. Egal, ob sie hier im Atelier etwas nähen, die Wände bemalen oder den Mut finden, auf die Bühne zu gehen – dieser kreative Bereich ist sehr wichtig. Er liefert Grundlagen für das spätere Leben, motiviert die Menschen, Dinge zu tun, vor denen sie vielleicht auch Angst haben – das hat eine Wirkung, davon bin ich fest überzeugt.

Was steht bei der Kunstplatte in nächster Zeit an?
Zürcher: 2007, im Jahr der Chancengleichheit, haben wir gemeinsam mit unseren Partnern einen landesweiten Wettbewerb gestartet. Die Leitfrage war: Was behindert uns in der Gesellschaft? Diesen Wettbewerb führen wir bis heute fort. Dort sind Menschen mit Behinderung involviert, Aktive aus der Flüchtlingshilfe – es geht darum, konstruktiv an die Probleme heranzugehen, die uns begegnen. Das wollen wir langfristig sichern. Dann steht im August wieder die Traumzeit in Brunkau an, außerdem wollen wir medientechnische Angebote auf den Weg bringen: Wir hatten die Möglichkeit, ein Tonstudio aufzubauen. Dort sollen künftig Podcasts und Musikaufnahmen entstehen. So wollen wir auch den künstlerisch-technischen Aspekt in die Arbeit der Kunstplatte integrieren.

Und wenn Sie einen Wunsch freihätten für die Zukunft der Kunstplatte – welcher wäre das?
Zürcher: Ich habe zwei Wünsche: Es ist schwer, das umzusetzen, aber am liebsten wäre es mir, nachhaltige Finanzierung für unsere Arbeit zu schaffen, um weniger abhängig von Projektförderung zu sein – das hindert uns oft daran, langfristig Angebote zu schaffen. Was wir aber erreichen können: Ich will mich aufgrund meines Alters demnächst aus dem Verein zurückziehen. Deswegen möchte ich einen neuen Vorstand aufbauen, der motiviert ist, die Arbeit der Kunstplatte auch in Zukunft weiterleben zu lassen.

Mehr zur Kunstplatte und ihren Angeboten gibt es unter www.kunstplatte.de.

Bild: Kunstplatte e. V.