„Wer Visionen hat, soll nicht zum Arzt gehen, sondern zu BESTFORM!“

Prof. Severin Wucher im Gespräch.

Am 28. Juni werden die Gewinnerinnen und Gewinner von BESTFORM 2023 verkündet. Höchste Zeit für einen Rückblick. Was macht den AWARD so besonders? Welche Trends zeigen sich? Und was bleibt in Erinnerung? Das langjährige Jurymitglied Severin Wucher, Professor am Fachbereich Design der Hochschule Anhalt in Dessau, gibt Antworten.

Severin Wucher lehrt seit 2013 Visuelle Kommunikation und Transmediales Design auf dem Dessauer Bauhaus-Campus der Hochschule Anhalt. Außerdem ist er Mitgründer von Plural, einem Verbund von Designexpertinnen und -experten. Zur Jury des BESTFORM-AWARDS gehört er seit 2019.

Herr Prof. Wucher, was macht den BESTFORM /// MEHR /// WERT /// AWARD für kreative Ideen so besonders?
Severin Wucher: Der Preis bleibt sich treu, weil er sich immer wieder wandelt und offen für aktuelle Entwicklungen ist. Darin liegt seine Stärke. Was BESTFORM außerdem besonders macht: Der Landeswettbewerb bildet das kreative Potenzial in Sachsen-Anhalt ab. Und nicht nur das: Er macht auch die Vielfalt sichtbar, in der Design heute agiert. Die Bandbreite beim BESTFORM-AWARD reicht von Anwendungen, die eine Problemstellung lösen, bis zu ganzheitlichen systemischen Ansätzen. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist die Kategorie „Vision des Jahres“: Hier geht es darum, über den berühmten Tellerrand zu schauen und auf Ideen aufmerksam zu machen, die jetzt schon vordringlich sind, aber noch nicht im Fokus der Medien sind und auch noch nicht auf der Agenda der Politik stehen, obwohl sie das dringend sollten.

Sie sind nicht das erste Mal als BESTFORM-Juror dabei. Wie hat sich der Wettbewerb über die Jahre entwickelt?
Wucher: Der Design-Begriff hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert. Zu Beginn lag der Fokus bei BESTFORM stark auf klassischen Gestaltungslösungen. Zum Beispiel spielten eine „gute Form“ und eine perfekte Ergonomie eine große Rolle bei der Bewertung. Heute wird beides fast als selbstverständlich vorausgesetzt, aber auch hinterfragt, inwiefern Potenziale von Stakeholderinnen und Stakeholdern und deren Vernetzung mitgedacht werden. Neben der reinen Formgebung hilft Design heute nämlich oft dazu, Communities um eine Dienstleistung herum aufzubauen. Was außerdem auffällt: BESTFORM ist thematisch offener und breiter aufgestellt als noch zu Anfangstagen. Damit ist der Preis ein guter Gradmesser für ein umfassendes Verständnis von Design, welches uns heute in so gut wie allen Lebenslagen begegnet und unseren Alltag mitprägt.

Geht das konkreter? Haben Sie ein Beispiel für einen Anwendungsbereich, der früher nicht mit Design in Verbindung gebracht wurde, heute aber schon?
Wucher: Ganz klar: Die Fragen eines klugen, umweltverträglichen Umgangs mit Materialien. Vor 20 Jahren war das im Design ein wichtiger, aber nicht ein zentraler Aspekt. Heute kommen Kreative und ihre Auftraggeber kaum noch um dieses Thema herum. Auch hat sich die Rolle von Designerinnen und Designern gewandelt: Gute Designlösungen entstehen stärker als früher im Austausch mit Nutzenden. Das ist eine radikal andere Herangehensweise im Vergleich zu früher – damit ein Produkt oder eine Dienstleistung akzeptiert wird, muss ich das Problem oder die Herausforderung von ihrer Warte aus betrachten und umsetzen. Die Politik nutzt dieses Potenzial von Design beispielsweise noch viel zu selten. Digitale Verwaltungs-Lösungen sind im Kern oft papierbasierte Prozesse, bei denen Dokumente jetzt eben per E-Mail statt per Fax übermittelt werden. Häufig wird auch Software beschafft, die nicht auf die Bedürfnisse und Kenntnisse von Nutzenden eingeht und nicht ausführlich mit ihnen erprobt worden ist. Für alle Beteiligten eine echte Verschwendung von Lebenszeit und Geld. Hier wird die wichtige Regel des nutzerzentrierten Designs ignoriert: Wenn du deinen Nutzerinnen und Nutzern eine Lösung anbieten willst, die von ihnen gut angenommen werden soll, beziehe sie so früh wie möglich in den Entwurfsprozess ein!

Können Sie ein Projekt aus dem Wettbewerb nennen, das diesen Wandel besonders gut veranschaulicht?
Wucher: Da bin ich jetzt vielleicht ein wenig befangen, aber da fällt mir das Projekt von Hannes Wilke ein, einem Studenten unserer Hochschule. Seine Idee wurde 2019 zur „Vision des Jahres“ gekürt. Hannes hat für Krankenhaus-Patientinnen und -Patienten ein Informationssystem entwickelt, das über die anstehenden Behandlungsschritte informiert. Das System erlaubt diesen gewissermaßen einen Blick in die Abläufe des Krankenhauses und sieht dabei ganz anders aus als typische Verwaltungssoftware. Hannes’ Vision zeigt auf, wie Design mit den Betroffenen gemacht wird und nicht mehr über ihre Köpfe hinweg. Eine transparente Kommunikation zwischen Patientinnen und Patienten, Pflegepersonal und medizinischem Personal schafft Verständnis und Respekt auf allen Seiten. Besonders bemerkenswert ist dabei: Die Idee verdankt Hannes seinen Berufserfahrungen als Pflegefachkraft. Genau diesen Weg muss gutes Design gehen: Nicht am Schreibtisch etwas ausdenken, sondern Verbesserungen im realen Leben erkennen und umsetzen.

Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, an Wettbewerben wie BESTFORM teilzunehmen?
Wucher: Kreativwettbewerbe bieten eine gute Gelegenheit, sich am Wettbewerb zu messen. Für die Entwicklung und Bewertung einer Produktidee ist das sehr wichtig – „ich challeng’ meine Idee“. Was außerdem für die Teilnahme spricht: BESTFORM schafft Awareness durch starke Medienpartner und bietet tolle Möglichkeiten zur Vernetzung in Sachsen-Anhalt. Hier im Land gibt es viele Initiativen, die exzellente Vermittlungsarbeit leisten. Von diesen Expertisen können die Teilnehmenden profitieren. Ich kann daher nur an alle kreative Köpfe in Sachsen-Anhalt appellieren: Wer Visionen hat, soll nicht zum Arzt gehen, sondern zu BESTFORM!

Worauf richten Sie besonders Ihr Augenmerk bei der Beurteilung der Produkte, Ideen und Projekte? Was ist Ihnen wichtig?
Wucher: Gutes Design ist für mich besonders die Verbindung von Ästhetik und Funktionalität. Dabei meint Ästhetik nicht nur das Aussehen, sondern alle Sinneswahrnehmungen. Wie fühlt es sich an? Wie riecht oder klingt das Produkt? Welche Wirkung erzeugt es beim Betrachten und bei der Nutzung? Das sind alles Aspekte, die für mich in der Bewertung eine Rolle spielen. Außerdem muss ich davon überzeugt sein, dass es sich auf dem Markt bewähren kann. Und noch wichtiger: Dass es einen echten Benefit schafft, auch wenn sich dieser nicht immer vorhersagen lässt.

Was denken Sie: Wie stark werden sich die Schwerpunkte bei kreativen Projekten und auch bei BESTFORM künftig verschieben?
Wucher: Ich meine, dass sich kreative Projekte stärker nach den vier Nachhaltigkeits-Dimensionen ausrichten. Das sind: Ökologie, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur. Besonders wichtig finde ich die vierte Kategorie, die kulturelle Nachhaltigkeit. Design kann Räume und Szenarien schaffen, in denen sich Menschen akzeptiert und geborgen fühlen – unabhängig von ihrem sozialen, intellektuellen oder finanziellen Vermögen.

In dem Zusammenhang denken wir auch an die Sonderkategorie „mittendrin – Städte in BESTFORM“. Hier wurden Räume gesucht, in denen sich kreative Ideen frei entfalten können.
Wucher: Genau! Das war eine Anregung des Wirtschaftsministeriums, die ich gerade in der Zeit nach Corona sehr relevant fand. Hier lag das Hauptaugenmerk vor allem darin, brachliegende Räume in kleinen Städten mit Leben zu füllen. Wovon ich überzeugt bin, sind Mischnutzungen. Warum nicht ein Bürgerbüro neben einem Repair-Café und einer Sparkassen-Filiale ansiedeln, anstatt das Leben in einzelnen Apps nachzubilden? Wir müssen mehr Vielfalt zulassen und Räume für Begegnungen schaffen. Dazu ermuntert der Wettbewerb mit der neuen Sonderkategorie. Die Bewerbungen waren vielversprechend!

 

Bild: Severin Wucher