„Die Reserven sind aufgebraucht“

Die Corona-Krise hat die Kreativwirtschaft in Sachsen-Anhalt stark in Mitleidenschaft gezogen: Mehr als die Hälfte der Branche fühlt sich in ihrer Existenz akut gefährdet. Der Vorsitzende Mirko Kisser und seine Stellvertreterin Heike Worel vom Verband der Kreativwirtschaft in Sachsen-Anhalt e.V. (KWSA) sprechen im Interview über die Herausforderungen der Gegenwart und Ziele für die Zukunft.

Vom Hauptsitz in Magdeburg und einer Geschäftsstelle in Halle (Saale) aus kümmern sich Mirko Kisser und Heike Worel um die Anliegen eines der vielfältigsten Wirtschaftszweige Sachsen-Anhalts. Beide sind seit vielen Jahren selbst Teil der Branche: Mirko Kisser betreibt die Digitalagentur celloon und das Medizintechnik-Unternehmen AID MEDWARE. Heike Worel stellt mit ihrem Unternehmen FRAGMENTIS Holzpuzzles her (wir berichteten), vorher war sie bei der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Magdeburg beschäftigt und dort für die Kreativwirtschaft zuständig. Wir haben mit ihnen über die Herausforderungen der Corona-Pandemie, den Zustand der Branche und die Bedeutung von Kreativpreisen gesprochen.

Wie geht es der Kultur- und Kreativwirtschaft in Sachsen-Anhalt am Beginn des dritten Pandemie-Jahres?

Heike Worel: Die Branche wurde sehr stark von der Pandemie getroffen. Wir beobachten eine gewisse Resignation und Geschäftsaufgaben,. Manche haben sich bereits in andere Bereiche umorientiert. Die Reserven sind weitgehend aufgebraucht.

Mirko Kisser: Seit Beginn der Pandemie führen wir mit Kreative Deutschland, dem Bundesverband der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland, Umfragen in der Branche durch. Die Ergebnisse sind eindeutig: 80 Prozent haben selbst negative Auswirkungen erlebt, mehr als die Hälfte sieht ihre wirtschaftliche Existenz stark gefährdet. Die Menschen sehnen sich nach sicheren Verhältnissen und nehmen dafür bisweilen auch eine Abkehr von ihrer kreativen Tätigkeit in Kauf.

Wie hat die Branche insgesamt die vergangenen zwei Jahre überstanden?

Mirko Kisser: Da gibt es die erwähnten Geschäftsaufgaben und Umorientierungen – viele sind zum Beispiel als Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in den Lehrdienst gewechselt. Wir beobachten aber auch viel Resilienz und Durchhaltevermögen – das zehrt allerdings an den Nerven.

Heike Worel: Unsere größte Befürchtung ist, dass die großen Konsequenzen womöglich erst noch kommen. Da im Moment oft die Perspektive fehlt, kann es sein, dass viele Menschen doch noch aufgeben, sich nach Festanstellungen umsehen, und die Branche so die wirklich flexiblen kreativen Köpfe, die Solo-Selbstständigen, verliert.

Was ist im Umgang mit der Pandemie gut gelaufen? Und wo sehen Sie die größten Probleme?

Heike Worel: Ein positiver Effekt ist, dass wir bei digitalen Tools viel weiter sind als zu Beginn der Pandemie. Die Sichtbarkeit der Branche hat allerdings stark abgenommen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch von Seiten der Politik: Wir leben von öffentlichen Veranstaltungen, von Messen und dem direkten Austausch. Zurzeit geht vieles davon nicht. Darüber hinaus leiden wir unter denselben Problemen wie alle anderen Wirtschaftszweige: Kostensteigerungen, Lieferengpässe, behördliche Schwerfälligkeit – das spannt die Situation zusätzlich an.

Mirko Kisser: Auf der einen Seite ist in der Krise eine riesige Solidarität in der Branche entstanden – wir haben Hilfsmaßnahmen recherchiert, uns mit anderen Netzwerken ausgetauscht. Auf der anderen Seite driften aber die verschiedenen Teile der Branche allmählich auseinander – die Kreativwirtschaft ist ja sehr vielfältig. Viele kümmern sich zuerst um ihre eigenen Interessen. Das ist zwar verständlich, aber für die Branche insgesamt keine gute Situation.

Welche sind die wichtigsten Themen für die Kultur- und Kreativwirtschaft in Sachsen-Anhalt im Jahr 2022?

Mirko Kisser: Wir müssen zurück zum echten Netzwerken, wir brauchen den direkten Kontakt zu den Menschen. In der Pandemie haben wir alle viel mit digitalen Formaten gearbeitet und gelernt, dass sie die persönliche Begegnung nicht ersetzen. Wir müssen uns auch viele grundsätzliche Fragen stellen: Was soll in den nächsten Jahren mit unserer Branche passieren? Wir sind landesweit der viertstärkste Wirtschaftszweig, in der öffentlichen Wahrnehmung aber eher eine Ansammlung vieler kleiner Akteurinnen und Akteure. Welche Strukturen brauchen wir? Wie können wir eine Situation schaffen, in der die Kreativen stärker und unkompliziert von staatlichen Hilfen und öffentlichen Fördermöglichkeiten Gebrauch machen können? Um für diese Fragen einen Rahmen zu schaffen, haben wir übrigens vor einer Weile ein eigenes Format gestartet: PLUSX. 2020 haben wir zehn Jahre KWSA gefeiert – PLUSX ist der Ausblick auf die nächsten zehn, also bis 2030.

Heike Worel: Die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt ist branchenübergreifend sehr kleinteilig. Das heißt: Der Großteil unserer Unternehmen hat zum Beispiel keine großen Werbeabteilungen, sondern ist auf die Arbeit der kreativen Solo-Selbstständigen angewiesen. Wenn diese Menschen zu großen Arbeitgebern abwandern, fehlen sie den regionalen Firmen. Dieses Bewusstsein, wie wichtig unsere Branche für die Standort- und Lebensqualität in Sachsen-Anhalt ist, müssen wir weiter ausbauen.

Und welche sind die wichtigsten Themen für den KWSA?

Mirko Kisser: Wir möchten unsere eigenen Netzwerkformate wieder aufleben lassen. Heike Worel hat da zum Beispiel mit anderen Kreativen aus Magdeburg den Kreativsalon gestartet, der lief einige Jahre lang in Magdeburg und Halle. Durch die Pandemie ist es dabei zum Stillstand gekommen. Genau solche Runden brauchen wir aber – einmal, um den Austausch innerhalb der Kultur- und Kreativwirtschaft zu fördern, aber auch, um die Branche mit anderen Wirtschaftszweigen zusammenzubringen. Es geht auch um politische Fragen. Anders als andere Länder hat Sachsen-Anhalt kein eigenes Kompetenzzentrum für die Kreativwirtschaft, für viele Themen haben wir keine direkten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Wir als ehrenamtlich arbeitender Verband können das nicht stemmen – da braucht es Finanzierung und eine politische Beschlusslage. Die steht auch mit dem neuen Koalitionsvertrag noch aus.

In Sachsen-Anhalt gibt es zahlreiche Wettbewerbe für Kreativschaffende, unter anderem BESTFORM. Welche Bedeutung haben sie?

Heike Worel: Diese Preise sind schon für viele tolle Projekte ein Sprungbrett gewesen. Wir wünschen uns, dass sie der klassischen Wirtschaft noch sichtbarer werden. Bei BESTFORM ist ja zum Beispiel der Ansatz, verschiedene Branchen miteinander zu verbinden. Dafür braucht es mehr Aufmerksamkeit.

Sie sind beide selbst kreativ tätig, haben den Insider-Blick auf die Branche. Wie lässt es sich derzeit als Kreative oder Kreativer arbeiten? Wo hakt es, was hat sich positiv entwickelt?

Heike Worel: Ich habe mein Unternehmen FRAGMENTIS im Herbst 2020 gegründet und konnte viele entscheidende Formate noch nicht nutzen: Messen und Märkte fallen aus, die für mich als Spielherstellerin eine wichtige Bühne sind. Der Umsatz im Einzelhandel leidet, auch mit meinem Online-Shop komme ich gegen die Budgets großer Hersteller natürlich nicht an. Es ist im Moment definitiv ein schwieriges Geschäft.

Mirko Kisser: Ich bin mit beiden Unternehmen, die ich leite, sehr digital unterwegs, also nicht so sehr auf klassische Verkaufssituationen angewiesen. Dennoch ist es schwierig, weil wir zum Beispiel Präsentationen nicht persönlich durchführen können und dadurch viele Gelegenheiten zum Dialog wegfallen. Eine wirklich ironische Geschichte habe ich mit celloon erlebt.: Wir haben 2019 mit viel Aufwand eine Software für Reisekostenabrechnungen entwickelt – dieses Produkt ist auf einen Schlag bedeutungslos geworden. Das zeigt: Egal, wie digital man aufgestellt ist, die Krise kann einen trotzdem ganz direkt treffen.

Vier Fragen zum Abschluss:

Wenn ich nicht kreativ arbeiten könnte, würde ich…
Heike Worel:
… es als Hobby tun.
Mirko Kisser: … sehr unglücklich werden.

Kreative in Sachsen-Anhalt brauchen mehr…
Heike Worel:
… Wertschätzung, Wahrnehmung und Aufträge. Einbeziehung in gesellschaftliche Prozesse und Zukunftsstrategien.

Der KWSA versteht sich als…
Mirko Kisser:
… Interessenvertretung, Branchenverband und Multiplikator. Als Schnittstelle zu Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Die Veränderung der letzten fünf Jahre, die am stärksten zu spüren ist, ist…
Heike Worel: … der unglaubliche Druck auf Solo-Selbstständige und die immer größeren Hürden, mit denen Kleinstunternehmen zu kämpfen haben.

Foto: KWSA